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Manuskript

Der Märchenkönig

In Deutschland kennt ihn fast jeder: Bayerns König Ludwig II. Als Monarch kümmerte er sich weniger um Regierungsgeschäfte als um Kunst und Kultur. Den Beinamen „Märchenkönig“ erhielt er wegen seiner Schlossbauten.

Geboren wurde Ludwig II. am 25. August 1845 auf Schloss Nymphenburg bei München, am 13. Juni 1886 starb er im Starnberger See. Von 1864 bis zu seinem Tod regierte er als König von Bayern, wobei regieren nicht ganz richtig ist. Ludwig II. hatte kaum Interesse an Politik, Kriegsführung und Verwaltung. Stattdessen engagierte er sich für die Künste, baute prunkvolle Schlösser und förderte den deutschen Komponisten Richard Wagner und dessen Musik. Über sein Leben und seinen tragischen Tod sind unzählige Bücher geschrieben, zahlreiche Filme gedreht worden. Der geheimnisvolle König fasziniert bis heute nicht nur die Deutschen, sondern auch viele Touristen. Gabriele Weishäupl, frühere Chefin des Münchner Tourismusamtes, ist überzeugt:

„Dieser König ist ein weltweites Phänomen. Ich hatte grade eine Delegation da aus Taiwan. Der König ist weltweit bekannt, die Amerikaner beten ihn an. Ich habe schon Präsentationen gemacht in [den] USA zu dem Thema des Königs. In Asien ist er beliebt und bekannt. Vor allem auch in Frankreich, denn er war ja frankophil und hat den Sonnenkönig nachgeahmt. Also ein König, der global verehrt wird!“

Gabriele Weishäupl erklärt, dass Ludwig II. in vielen Ländern der Welt ein Begriff, ein Phänomen, sei. Besonders die Amerikaner würden ihn sehr verehren, ihn fast wie einen Gott anbeten. Aber auch den Franzosen sei er nicht unbekannt, weil er alles Französische geliebt habe, er sei sehr frankophil gewesen. Den französischen König Ludwig XIV., den Sonnenkönig, habe er gar nachgeahmt. Dieser war unter anderem bekannt für seine prunkvollen Schlossbauten wie das Schloss Versailles. Den Beinamen Sonnenkönig erhielt Ludwig XIV., weil er die Sonne als Lieblingssymbol benutzte. Wie sein Namensvetter hielt sich auch der bayerische König Ludwig II. nicht gerne an seinem eigentlichen Regierungssitz auf, in der Landeshauptstadt München:

„München. München. Nicht einmal zehn Pferde bringen mich in diese verhasste Stadt.“

Der menschenscheue König hasste München. Keine zehn Pferde bringen ihn in diese Stadt, sagt Schauspieler Helmut Berger, der die Rolle des Königs in Luchino Viscontis Film aus dem Jahr 1972 spielt. Verwendet jemand die Redewendung: „Mich bringen keine zehn Pferde dahin“, will er damit ausdrücken, dass er unter keinen Umständen da bleiben will, wo er ist. Denn König Ludwig II. hielt sich lieber in Schloss Berg am Starnberger See oder in einem seiner anderen Schlösser auf. Auf dem Dach des Schlosses in München ließ der scheue Monarch einen gigantischen Dachgarten anlegen, der heute allerdings nicht mehr existiert. Die Münchner stört dieses Verhalten ihres früheren Königs auch heute, Jahrhunderte später nicht so sehr, wie Astrid vom Tourismusamt sagt:

„Der König ist irgendwie allen präsent, weil das einfach auch ‘n ganz kreativer, künstlerischer Mensch war. Also daher, er taucht ja wirklich überall auf, und die Münchener haben ihn eigentlich auch so im Kopf.“

Für die Münchner ist Ludwig II. der „Kini“ – ihr König. Sie mögen ihn so, wie er war. Sie haben ihn als künstlerischen Menschen in Erinnerung, im Kopf, wie Astrid sagt. Die meisten Touristen zieht es natürlich zu den drei berühmten Schlössern, die Ludwig II. während seiner Regentschaft mit unglaublichen Geldsummen hat bauen lassen und die ihm den Beinamen „Der Märchenkönig“ eintrugen. Es sind die Schlösser Linderhof, Herrenchiemsee und Neuschwanstein. Bei Schloss Neuschwanstein weiß mancher Tourist aber nicht – so Astrid –, ob der Bau im Allgäu nun eine Kopie ist oder das Original:

„Ich mein’, Schloss Neuschwanstein ist wirklich so weltberühmt auch, und also wir haben tatsächlich auch amerikanische Gäste, die sich nicht so auskennen, die gesagt haben: ‚Which is the real one?’. Und da haben die an ihr Disneyland, an ihre Neuschwanstein-Nachbildung gedacht.“

Amerikanische Touristen glauben, wie Astrid erzählt, dass das ursprüngliche Schloss Neuschwanstein im Disneyland im US-Bundesstaat Florida steht und dass das im Allgäu eine Nachbildung ist. Um die Person Ludwigs II. ranken sich viele Geschichten. Welche davon historischer Wahrheit entsprechen und welche in den Bereich der Mythen und Legenden gehören, kann kaum einer mehr genau unterscheiden. Der Historiker Klaus Reichhold hat gemeinsam mit dem Germanisten Thomas Endl ein Buch über Ludwig II. geschrieben. Veröffentlicht wurde „Ludwig Forever“ zum 125. Todestag des Monarchen im Jahr 2011. Warum wollten die beiden das Buch schreiben?

„Also zum einen gibt’s natürlich schon 5798 Bücher. Wir wollten das 5799. machen. Und zwar unser Hintergedanke war der: Es gibt in der Tat sehr viele Bücher, die sich die Frage stellen: Was ist die Wahrheit? Und ich hatte immer den Eindruck, das ist die falsche Frage. Es ist die Frage: Was hat der für eine Wirkung entfacht?“

Der Historiker sagt, dass sie beide mit dem Buch bezwecken wollten, dass ihr Hintergedanke war, ihren Lesern etwas Bestimmtes zu zeigen: Wie konnte der König eines so unwichtigen, kleinen Königreichs zu einem weltweit gefeierten Helden und einer Legende, einem Mythos, werden? Welche Wirkung hat Ludwig II. bei anderen erzielt, entfacht – und warum? Schon als er lebte, war die Wirkung des Monarchen sehr groß. Sie steigerte sich dann aber noch, als er mit jungen Jahren – unter mysteriösen und bis heute ungeklärten Umständen – zusammen mit seinem Psychiater im Starnberger See zu Tode kam. Wenige Tage zuvor war Ludwig II. von der eigenen Regierung abgesetzt worden, weil er das Königreich immer weiter verschuldete. Warum er zu Tode kam, ob es Mord, Selbstmord oder gar ein Herzinfarkt vor Aufregung gewesen war, ist bis heute ein Geheimnis. Die Nachfahren des Königs – das Haus Wittelsbach – lehnt eine Öffnung des Grabes zur Klärung der wahren Todesursache ab. Die Königsgruft in der Michaelskirche mitten im Herzen Münchens kann man besichtigen. Hört man einer Fremdenführerin wie Gertrud zu, die vor dem Sarg über den toten König spricht, ist man immer noch nicht sicher, was wahr und was Legende ist:

„Der Tag, an dem er zu Grabe getragen wurde, war ein sehr stürmischer Tag. Kaum war der Sarg in der Michaelskirche eingetroffen, zog ein gewaltiges Gewitter herauf, und man kann praktisch sagen: ‚Unter Blitz und Donner wurde König Ludwig auch zu Grab getragen‘. Es schlug ein Blitz ein, dass sogar einige Leute an die Mauer der Kirche geschleudert wurden, und ein unwahrscheinlicher Donner folgte darauf. Man sieht, König Ludwig wird ewig ein Mythos für Bayern und auch für München bleiben.“

Das Schicksal hatte es wohl nicht gut gemeint mit dem König. Der Himmel grollte. Der griechischen Mythologie nach schleuderte der Himmelsgott Zeus, wenn er die Menschen bestrafen wollte, seine Blitze und schickte den Donner. Ob es sich damals wirklich so ereignet hat, wird – wie Gertrud sagt – ewig ein Mythos, eine ungeklärte Geschichte bleiben. Etwas, das auch eng mit König Ludwig II. verbunden ist, ist seine Förderung des deutschen Komponisten Richard Wagner. Wäre es nach dem bayerischen König gegangen, dann wäre das Festspielhaus, das heute in Bayreuth steht, am Ufer der Isar in München gebaut worden. Ludwig II. war ein echter Opernexperte, wie die junge Frau, die durch den Prachtbau der Münchner Oper führt, erläutert:

„Man konnte Ludwig deswegen auch gut sehen, weil er in seiner Loge immer ‘n bisschen Licht anhatte, damit er die Noten verfolgen kann, damit er genau kontrollieren kann, ob alle Sänger wirklich hundertprozentig textsicher sind. Er verfolgte die Bühnenanweisungen zeitgleich mit, das heißt er war schon sehr genau, was dann auch die Aufführungen anging.“

Ludwig II. hatte in der Münchner Staatsoper einen eigenen, von anderen abgegrenzten Platz – eine Loge. Logen liegen – wie Balkone – etwas höher, so dass man einen guten Überblick hat. Ludwig II. besuchte mehr als 200 Vorstellungen. Als „Publikum“ zugelassen waren nur seine Soldaten, die sich auf keinen Fall nach dem König umdrehen und wenn sie einschliefen, nicht schnarchen durften. Der König überprüfte, ob die Sänger ihren Text auch wirklich auswendig konnten, ob sie hundertprozentig textsicher waren. So richtig schlau wird man nicht aus dem kunstsinnigen, öffentlichkeitsscheuen, sensiblen, opernbegeisterten Monarchen, dem homosexuelle Neigungen sowie Geisteskrankheit, eine gespaltene, schizophrene Persönlichkeit nachgesagt werden. Auch dann nicht, wenn man sich alle Orte, die mit ihm verbunden sind, angeschaut, alle Veröffentlichungen über ihn gelesen hat. Und das ist möglicherweise auch gut so, meint Thomas Endl:

„Wahrscheinlich nimmt man der ganzen Geschichte sogar was, wenn man ihn, ja, wirklich erklären könnte. Ich glaub’, das ist eigentlich so am besten wie er mit einem Zitat dann formuliert hat: ‚Ein ewig Rätsel will ich bleiben’.“

Ludwig II. selbst wollte – so will es zumindest ein ihm zugeschriebenes Zitat – nicht erklärt werden. Er wollte immer ein Mysterium, ein Geheimnis, ein Rätsel bleiben. Würde das Rätsel gelöst, das Geheimnis offenbart, dann – so Thomas Endl – würde man der ganzen Geschichte etwas nehmen. Die Faszination des „Märchenkönigs“ wäre weg.

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