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Manuskript

Sankt Martin hoch zu Ross

Auf seinem Pferd sitzend, einem armen Bettler helfend. So ist er in die Geschichte eingegangen: Martin von Tours. Rund um diese Tat hat sich ein Brauchtum entwickelt – wie das Martinssingen oder Martinsgansessen.


Wenn es immer früher dunkel wird und die Blätter von den Bäumen fallen, ist Zeit für das erste Fest, das auf Weihnachten hinführt: Sankt Martin. Es ist ein katholisches Fest mit langer Tradition, das am 11. November gefeiert wird. Je nach Region gibt es bestimmte Bräuche. Auch aus dem Rheinland ist diese Tradition nicht wegzudenken. Was auf jeden Fall dazu gehört, sind die entsprechenden Sankt-Martinslieder:

„Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Ross, das trug ihn fort geschwind. Sankt Martin ritt mit leichtem Mut, sein Mantel deckt ihn warm und gut.“

Voller Eifer singen die Grundschüler einer Bonner Grundschule. Im Unterricht haben sie alle beliebten Sankt-Martinslieder gelernt. Das Lied, in dem Sankt Martin auf seinem Pferd, seinem Ross, durch den Schnee reitet, gehört zu den am häufigsten gesungenen. Der heilige Martin reitet schnell, geschwind, und gut gelaunt, frohen Mutes, oder, wie es in dem Volkslied heißt, leichten Mutes durch den Schnee. Es ist windig. Gewärmt wird er durch seinen Mantel: Er deckt ihn warm. In den Kindergärten und in der Grundschule lernen die Kinder auch, wer Sankt Martin eigentlich war. Erstklässler Scott kann das jedenfalls genau erklären:

„Der hat den Mantel einem Bettler gegeben. Ich finde Sankt Martin gut, weil man da auch Laternen hat und einen Laternenzug machen kann.“

In Erinnerung an das Begräbnis des Heiligen, findet jedes Mal ein Laternenzug statt, bei dem die Lieder gesungen werden. Wer war Sankt Martin? Er wurde als Martinus um das Jahr 316 nach Christus geboren und mit 15 Jahren Soldat in den Diensten der römischen Armee. Die Legende will es, dass Martinus im Alter von 17 Jahren an einem kalten Wintertag vor den Toren der heutigen nordfranzösischen Stadt Amiens einem frierenden Bettler begegnete. Damit auch dieser etwas Wärmendes zum Anziehen hatte, soll Martinus seinen roten Umhang mit einem Schwert in zwei Teile geteilt haben. Später soll ihm im Traum Jesus erschienen sein und ihn dazu aufgefordert haben, sich taufen zu lassen. Martinus beendete seinen Armeedienst, ließ sich als „Martin“ taufen und wurde Priester. Wegen seines Wirkens für andere Menschen wollten ihn die Bürger der Stadt Tours als Bischof haben. Im Jahr 372 wurde er geweiht. Er starb am 8. November 397. Drei Tage später, am 11. November, wurde sein Leichnam – begleitet von einer Lichterprozession – auf einem Boot nach Tours gebracht, wo er beerdigt wurde. Wenig später wurde Martin von Tours vom Papst heiliggesprochen. Aus ihm wurde Sankt Martin. Wie bei der Lichterprozession ziehen heutzutage die Kinder beim Sankt-Martinszug mit Laternen durch die Straßen. Bei den größten Laternenzügen kommen fast 4000 Menschen zusammen. Angeführt wird der Zug von einem Reiter, der Sankt Martin verkörpert. Dem Bonner Sankt-Martin-Darsteller ist das Fortführen der Tradition besonders wichtig, da inzwischen einige Kinder lieber Halloween feierten:

„Ich finde es schade, dass diese Tradition so langsam aber sicher abbröckelt. Wenn man die Kinder fragt: ‚Was ist Sankt Martin?‘, ‚Wer ist Sankt Martin?‘ oder die Geschichte nach dem Sankt Martin, bekommt man nur Antworten von wegen: ‚Äh, äh! Weiß ich nicht!‘ Das finde ich eigentlich sehr schade.“

Der Darsteller des Sankt Martin hat festgestellt, dass viele Kinder nicht mehr wissen, worauf die Tradition des Festes zurückzuführen ist. Die Tradition bröckle ab, wie Steine, die locker sind. Das ist aber längst nicht bei allen Kindern der Fall. Denn Erstklässler Scott weiß genau, warum er seine selbstgebastelte rote Apfellaterne durch die Bonner Altstadt trägt. Auch seine Mutter Franziska mag die jährliche Tradition, die sie erst im Rheinland richtig kennengelernt hat:

„Also, ich bin in der DDR aufgewachsen, und da gab’s keinen Sankt Martin. Insofern hab ich keine Kindheitserinnerungen. Aber seitdem ich Kinder hab’ und seitdem wir im Rheinland wohnen, ist es ganz schön, weil man ja jedes Jahr einfach dann im Kindergarten geht. Selbst unsere kleine einjährige Tochter hatte schon ‘n Sankt-Martins-Umzug, und ja, jetzt ist der Große in der Schule, und wir gehen das erste Mal in der Schule mit.“

Als Kind hat Franziska Sankt Martin und die damit verbundene Tradition nicht kennengelernt, weil alles, was mit Kirche und christlichem Glauben zu tun hatte, in der früheren DDR nicht erlaubt war. Erst im Rheinland ist sie in einem Umzug mitgegangen, und zwar mit ihrer kleinen Tochter und ihrem älteren Sohn, dem – wie sie umgangssprachlich sagt – Großen. Der Umzug endet am Martinsfeuer. Mehrere Meter hoch wird Holz aufeinandergestapelt und angezündet. Dabei wird oft die Martinsgeschichte noch einmal vorgelesen. Anschließend bekommt jedes Kind einen „Weckmann“. So heißt das süße Gebäck jedenfalls im Rheinland. Andernorts kennt man ihn auch als „Martinsmann“oder „Stutenkerl“. Nicht nur die Kinder mögen diese gemütliche Tradition – auch Scotts Vater Harald:

„Besonders schön ist einfach das Event als solches, dass sich ganz viele Kinder treffen, und es ist im Dunkeln, und es ist ‘n bisschen heimelig, es passiert was – und das ganze Drumherum, also das Basteln der Laternen. Das ist ‘ne ganze Menge, so ‘n Rundum-Wohlfühlpaket für die Kinder, und ich glaub’, das gefällt den Kindern auch am meisten.“

Harald liebt die gesamte Atmosphäre des Ereignisses oder – wie er neudeutsch sagt – des Events. Für ihn fühlt es sich heimelig an, behaglich wie daheim in seinem eigenen Haus. Auch die Vorbereitung, das Basteln der Laternen und das Einüben der Lieder, das ganze Drumherum wie er sagt, gehört dazu. Es ist ein Rundum-Wohlfühlpaket, so als ob man sich einen ganzen Tag nur verwöhnen lässt und sich anschließend richtig gut, richtig wohlfühlt. Die Laternen sind das Schönste an jedem Umzug. In der Regel werden sie ein bis zwei Wochen vorher zuhause oder in Kindergärten und Grundschulen gebastelt. Form, Farbe und Material verändern sich jedes Jahr:

„Also, wir hatten jetzt Architektenpapier. Das haben die Kinder dann mit Wachsmalstiften bemalt. Das nennt man dann ‘ne Bügeltechnik. Das verläuft dann so. Und wir hatten einen Korpus dieses Jahr, viereckig, wo das so reingeklebt wurde. Und dann wählen die Familien selber aus, ob sie ‘ne Kerze nehmen oder elektrisches Licht.“

In ihrem Kindergarten erzählt die Kindergärtnerin wurde dieses Mal Architektenpapier genommen. Das ist transparent und hat eine gewachste Oberfläche. Dieses Papier kann man zum Beispiel mit farbigen Wachsmalstiften bemalen. Bügelt man die Zeichnung, verlaufen die Farben wegen des in den Stiften enthaltenen Wachses. Das Papier wird anschließend so zurechtgeschnitten, dass es in die Laternengrundform, den Korpus, passt. Dieser ist in der Regel aus Pappe. Wichtig ist ein fester Boden, so dass eventuell eine Kerze hineingeklebt werden kann. Die meisten Laternen werden aber durch eine kleine Glühlampe, die an einem langen Stab hängt, elektrisch erleuchtet. Martinsumzüge gibt es nicht in allen Teilen Deutschlands, sondern nur in überwiegend katholischen Regionen wie im Rheinland und in Süddeutschland. Mancher Kindergarten veranstaltet, wie die Mitarbeiterin des Gütersloher Kindergartens erzählt, aus einem ganz bestimmten Grund nur ein sogenanntes Laternenfest:

„Das haben wir uns hier im Team so überlegt, weil wir hier viele Menschen haben aus unterschiedlichen Kulturkreisen oder auch Menschen, die überhaupt gar keiner Religion angehören. Und um allen Gesellschaftsschichten gerecht zu werden, haben wir uns jetzt hier für ‘n Laternenfest geeinigt, wo wir halt Lieder singen, wo wir gemeinsam mit den Eltern ein Laternenfest feiern und den Kindern. Aber die klassische Martins-Geschichte mit Mantel teilen und so, das findet hier nicht statt.“

Dieser Kindergarten hat sich dafür entschieden, das rein katholische Fest anders zu gestalten. Der Grund: Den Kindergarten besuchen Kinder unterschiedlicher Religionen und aus verschiedenen Staaten mit ihren Bräuchen und Traditionen, aus verschiedenen Kulturkreisen. Der Gedanke von Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe des Martinsfestes wird allerdings auch beim alternativ gefeierten Laternenfest betont. Auch die Lieder, die gesungen werden, gestalten sich etwas anders. Da geht es nicht um Sankt Martin, sondern zum Beispiel um zwei Kühe, die mit ihren Laternen losziehen und anfangen zu tanzen:

„Am Kindergarten wollen sie starten, so ein Laternenumzug ist doch richtig schön. Und die Kühe wandern mit, einmal vor und dann zurück. Und dann dreh’n sie sich im Kreis …“

Neben den Laternenumzügen ist auch das traditionelle Martinsgans-Essen besonders beliebt. Es geht ebenfalls auf die Sankt-Martinslegende zurück. Danach soll sich Martin vor der Weihe zum Bischof in einem Gänsestall versteckt haben, weil er dachte, er sei nicht geeignet für das Bischofsamt. Allerdings schnatterten die Gänse so laut, dass er gefunden wurde. Aus Verärgerung soll er diese anschließend geschlachtet haben. Für die Kinder kommt der eigentliche Höhepunkt des Festes allerdings erst nach dem Laternenumzug. Im Rheinland heißt dieser Brauch „Schnörzen“ oder „Dotzen“. Dabei ziehen die Kinder von einem Haus zum nächsten, singen Martinslieder und bekommen als Belohnung Süßigkeiten. Der Brauch hat vermutlich damit zu tun, dass früher die Angestellten von ihren Arbeitgebern, der sogenannten Herrschaft, über den Winter entlassen wurden. Mit dem Schnörzen sorgten sie dafür, dass die Familie etwas zu essen hatte. Viertklässlerin Hanna und ihre Freundinnen können es kaum noch abwarten, loszuziehen:

„Wir gehen von Haus zu Haus, klingeln da, singen dann Lieder, und dann kriegen wir meistens dafür was Süßes. / Deswegen hab’ ich auch so ‘ne große Tasche dabei!“

Wer schnörzen geht, muss auf alle Fälle etwas dabei haben: eine sehr große Tasche. Und wenn die Füße schmerzen, die Stimme so langsam versagt, bleibt nur noch ein Lied übrig:

„Dort oben leuchten die Sterne und da unten leuchten wir. Mein Licht ist aus, wir geh’n nach Haus, Rabimmel, Rabammel, Rabumbumbum. Mein Licht ist aus, wir geh’n nach Haus, Rabimmel, Rabammel, Rabumbumbum.“

Der Darsteller des Sankt Martin befürchtet, dass die Tradition des Festes ausstirbt.
Das Wort „Weckmann“ ist in ganz Deutschland gebräuchlich.
In der früheren DDR wurde das Sankt-Martinsfest nicht gefeiert.

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