Manuskript

„Stolpersteine“ als Orte der Erinnerung

Viele Tausend kleine Messingplatten in Gehwegen erinnern an die Opfer des Holocaust – in Deutschland und in weiteren Ländern. Das Projekt wurde 1992 von dem Berliner Künstler Gunter Demnig ins Leben gerufen.


Weiße Rosen und rote Nelken umrahmen die zwei glänzenden Messingplatten im Bürgersteig vor der Haustür der Thomasiusstraße 23 in Leipzig. Daneben brennen vier Kerzen. Eine junge Mutter bleibt stehen, wechselt ein paar Worte mit ihrer kleinen Tochter, zeigt auf die Messingplatten im Boden. Dann gehen die beiden langsam weiter. Was genau die Mutter ihrem Kind erzählt hat, lässt sich nur vermuten. Womöglich sind traurige Worte gefallen, wie Holocaust, Deportation oder feiger Mord. Vielleicht hat sie aber auch gedacht, dass ihre Tochter für all das noch zu jung sei und ihr einfach vorgelesen, was auf den beiden Steinen steht: „Hier wohnten Leopold und Malka Rabinowitsch, Flucht 1939 nach Lettland, Riga, deportiert und ermordet 1941.“

Ortswechsel: Köln-Innenstadt, Händelstraße 20: „Hier liegen zwei Steine und zwar für Peter Ganter-Gilmans und seine Frau Auguste Ganter-Gilmans. Er ist verhaftet worden, wahrscheinlich als Politischer in Sachsenhausen ermordet; sie ist später deportiert worden nach Theresienstadt und dort mit Sicherheit ermordet worden, zu Tode gekommen.“

Ein paar Schritte zurück. Auch vor dem Haus mit der Nummer 14 erinnern Stolpersteine an die ehemaligen Bewohner: „Ist auch wieder ein Ehepaar, Jakob Sürth und Julia Sürth. Sie sind beide gemeinsam hier abgeholt worden, nach Łódź deportiert und dann stehen drei Fragezeichen jeweils. Das heißt, man weiß nichts mehr. Für mich das Traurigste.“

Der Berliner Künstler Gunter Demnig erklärt, dass während des Nationalsozialismus aus beiden Häusern jüdische Ehepaare verschleppt wurden. Bei Peter Ganter-Gilmans wird vermutet, dass er Widerstand gegen das Regime leistete, ein Politischer war. In der Regel wurden die Menschen in eines der zahlreichen Konzentrationslager (KZ) deportiert, wie Sachsenhausen nördlich von Berlin, Theresienstadt im heutigen Tschechien oder Litzmannstadt (heute Łódź) in Polen. Nicht immer ist ihr weiteres Schicksal bekannt. Es stehen drei Fragezeichen dahinter. Manchmal klärt es sich auch erst nach der Verlegung eines Stolpersteins. So wie beim Ehepaar Sürth. Beide wurden im KZ ermordet.

Angefangen hat alles im Dezember 1992: Ausgestattet mit einer kleinen Spitzhacke begann Gunter Demnig damit, die ersten Steine vor dem Historischen Rathaus der Stadt Köln zu verlegen. Den Künstler hatte gestört, dass Kränze immer nur an den Gedenktagen des Holocaust an den zentralen Gedenkstätten, wie er es ausdrückte, „abgeworfen“ wurden – eine jährlich wiederkehrende Pflichtveranstaltung. Demnig wollte die einzelnen Opfer der NS-Diktatur aus ihrer Anonymität herausholen, ihnen ihren Namen und ihre Würde zurückgeben. Denn wie heißt es im Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“

Oft sind es die Nachkommen der Opfer, die Patenschaft  für einen Stein übernehmen. Stolpersteine gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in weiteren Staaten – darunter in Polen, Österreich, Ungarn und der Ukraine. Vier Länder, in denen das NS-Regime Menschen verschleppte und ermordete. Dass seine Idee so erfolgreich sein würde, hatte der Künstler anfangs nicht für möglich gehalten:

„Weil ich dachte, das ist hypertroph, sechs Millionen Steine. Es war dann ein evangelischer Pfarrer, der Pfarrer Kurt Pick, der gesagt hat: ‚Na gut Gunter, die Million wirst du nie schaffen, aber man kann klein anfangen.“

Anfangs dachte Gunter Demnig, dass die Verwirklichung seiner Idee bei sechs Millionen Opfern des Holocaust eine Nummer zu groß sei. Es sei übertrieben, hypertroph. Der Rat eines Pfarrers, doch zunächst nur ein paar Steine zu verlegen, erst mal klein anzufangen, überzeugte ihn.

Manchmal kommt es bei einer Aktion auch zu erinnerungswürdigen Momenten. Zur Verlegung der Stolpersteine für ihre Großeltern war die über 90-jährige Enkelin des Ehepaars Rabinowitsch nach Leipzig gekommen. Mit Tränen in den Augen, aber einem Lächeln auf den Lippen, freute sie sich darüber, dass es nun endlich einen Erinnerungsort für ihre Familie gibt. Möglich gemacht hatten das die Eltern zweier 14-Jähriger, die ihnen die Steine geschenkt hatten. Die Folge: Die Jugendlichen begannen, sich intensiv mit der Familiengeschichte der Rabinowitschs zu befassen. Und das, so sagt Gunter Demnig, sei für ihn sehr wichtig:

„Für mich bei all dem Hintergrund, der ja eigentlich kein Grund zur Freude ist, ist die Erfahrung mit Jugendlichen. Ich war erst von Lehrern gewarnt worden, die mir gesagt haben: ‚Du, bloß nicht. Dieses Thema steht den Jugendlichen bis zum Hals, das kommt denen zu den Ohren raus‘. Ich hab inzwischen genau das Gegenteil erfahren.

Die wollen wissen, wie konnte so etwas im Land der Dichter und Denker passieren.“

Die Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus gehört für die Jahrgangsstufen 9 und 10, manchmal auch 8, zum Pflichtunterricht. Manche Lehrende haben allerdings das Gefühl, dass den Jugendlichen das Thema bis zum Hals steht beziehungsweise ihnen aus den Ohren rauskommt. Sie sind des Themas überdrüssig, weil es zu oft behandelt wurde. Aber offenbar nicht oft genug: Denn 2017 befragte die Hamburger Körber-Stiftung 1.511 Bundesbürger ab 14 Jahren, darunter 502 Schülerinnen und Schüler, zu ihrem Geschichtsunterricht. Ein Ergebnis der Befragung war, dass nur 59 Prozent der befragten Schüler wussten, dass es sich bei Auschwitz-Birkenau um ein Konzentrationslager handelt.

Gunter Demnig jedenfalls freut sich über jeden Jugendlichen, der sich mit der Vergangenheit beschäftigt. Dass der übertragene Begriff „Stolperstein“ auch von jungen Menschen verstanden wird, wurde mal bei einer Aktion deutlich, erinnert er sich:

„Nach einer Veranstaltung fragte ein Reporter einen Hauptschüler. ‚Sag mal, aber das ist doch gefährlich, Stolpersteine. Man fällt doch hin.‘ Daraufhin sagte er: ‚Nein, nein. Man fällt nicht hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.‘ Und ein Aspekt ist für mich noch wichtig geworden: Wenn du so einen Stein entdeckst und stehen bleibst und lesen willst: Du musst automatisch eine Verbeugung vor dem Opfer machen.“

Und damit endet in der Regel auch jede Verlegung neuer Stolpersteine: mit einem kurzen Moment der Stille und einer leisen Verbeugung.

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