Theater als Lebensschule
Einmal eine andere Person sein, in eine andere Rolle schlüpfen: Das Niederrhein-Theater in Brüggen nahe Düsseldorf ermöglicht das interessierten Jugendlichen. Mit Erfolg: Die Schauspielkurse sind immer ausgebucht.
Brüggen ist ein kleiner Ort, 50 Kilometer westlich von Düsseldorf, nicht weit von der niederländischen Grenze entfernt. Ein Burggebäude aus dem 14. Jahrhundert dominiert das Zentrum. Im Hof der Burg sowie in Räumen eines ehemaligen Wasserschlosses etwas außerhalb des Ortes finden jedes Jahr Aufführungen des Niederrhein-Theaters statt. 2007 riefen die Gründer des Theaters, Verena Bill und Michael Koenen, ihr Jugendprojekt ins Leben. Ihr Ziel ist es, Jugendliche für das Theater zu begeistern und ihnen auch ein bisschen Lebenshilfe zu geben – so wie bei der folgenden Probe des Klassikers „Der Geizige“ des französischen Dramatikers Molière:
„Ach, was für ein Durcheinander. Gucken Sie sich diese Unordnung an. Meine Arme sehen schrecklich aus. Und meine Kleider sind unmöglich. / Ja, Michelle. Noch mal. Komm noch ‘n Stück weiter. Konzentrier’ dich und dann guck dir das erst mal an, dieses Durcheinander. Da kommst du nicht mehr mit klar. Du weißt auch gar nicht, wie du das aufräumen sollst.“
Die Figur, die die Jugendliche darstellt, ist gar nicht zufrieden mit ihrer Kleidung. Sie findet sie nicht schön – oder wie die Darstellerin umgangssprachlich sagt – unmöglich. Bei den Proben korrigieren die Regisseurin Verena Bill und ihr Kollege und Partner Michael Koenen Sprache und Haltung und geben Tipps. So fordert Verena Bill die Jugendliche auf, sich noch mehr in die Rolle und die Situation zu versetzen, noch ein Stück weiterzugehen. Sie solle sich vorstellen, dass sie diese Unordnung gar nicht aufräumen, die Aufgabe nicht bewältigen könne, nicht mit ihr klarkomme. Jede Szene wird genau geprobt, einstudiert. Zwei Wochen dauert der Kurs. Am Ende steht als eine Art Krönung eine öffentliche Aufführung vor Publikum – eine tiefgreifende Erfahrung für die meisten Jugendlichen:
„Ich hab’ mir das nicht so toll vorgestellt, wie es eigentlich ist, dass man jetzt da wirklich so mitfühlen kann und so, und das wirklich jetzt so wie heute spürt, wirklich die Rolle, wie das so ist. Man weiß halt wirklich, was man da sagt, und man spürt auch richtig die Wut oder was auch immer. / Also, eine Sache, die wir hier gelernt haben, ist ja zum Beispiel richtig stehen, also auf beiden Beinen stehen und so was. Und ich glaube auch, dass das einem bei Bewerbungsgesprächen oder so was auch weiterhelfen kann. / Ja, vielleicht auch, Gefühle zu kontrollieren und ernst zu bleiben oder so was. Das ist ja auch wichtig so im weiteren Leben.“
Die drei jungen Frauen drücken aus, dass ihnen die Mitwirkung bei dem Theaterprojekt für ihre Persönlichkeitsentwicklung geholfen habe. Die erste Jugendliche findet es gut, Gefühle wie Wut oder Ärger wirklich zu spüren, zu fühlen, wie es ist, wenn ihre Rolle diese Gefühle von ihr verlangt – wie sie sagt – mitzufühlen. Die zweite Jugendliche hat etwas Praktisches fürs Leben gelernt, nämlich dass es wichtig ist, auf beiden Beinen zu stehen, richtig zu stehen. Der Ausdruck kann auch im übertragenen Sinn gebraucht werden: Wer redensartlich „mit beiden Beinen im Leben steht“ oder „auf dem Boden steht“ ist selbstbewusst und kommt im Leben zurecht. Die dritte Jugendliche hat für sich persönlich die Erfahrung gemacht, dass man je nach Situation bestimmte Gefühle unterdrücken und ernst bleiben sollte. Für die Teilnahme an dem Kurs müssen die Teilnehmer nichts zahlen. Die Kosten werden von der Gemeinde und Sponsoren aus der Umgebung getragen. Ausgewählt werden jeweils zwölf Jugendliche durch ein in der Presse angekündigtes Casting, bei dem nach kurzen Probeauftritten entschieden wird, wer mitmachen darf. Die Kriterien sind – so Verena Bill – andere als bei den Casting-Shows fürs Fernsehen:
„Wir haben die dann eingeteilt zu verschiedenen Castings, wobei wir aber nicht drauf geachtet haben, dass die jetzt alle unheimlich talentiert sind, sondern halt so ‘n bisschen geguckt vom Typ her auch, wer könnte das vielleicht auch mal ganz gut brauchen. Wir haben geguckt, wie geht jemand, wie steht jemand, wie spricht jemand und wem könnte das vielleicht auch mal helfen so im normalen Leben, um ‘n bisschen selbstbewusster aufzutreten oder eben vielleicht ‘n bisschen mehr eigene Einschätzung der Wirkung auch zu bekommen.“
Für die beiden Regisseure steht nicht im Vordergrund, jemanden auszuwählen, der oder die ein sehr großes Talent hat – wie Verena Bill umgangssprachlich sagt – unheimlich talentiert ist. Das Adverb unheimlich wird immer dann verwendet, wenn ein Adjektiv besonders betont werden soll. Bei der Besetzung der Rollen wird geschaut, geguckt, wem die Schauspielerfahrung im Alltag weiterhelfen kann, wer sie gut brauchen kann. Persönlichkeitsbildung steht also im Vordergrund, nicht Karriereförderung, auch wenn das ein praktischer Nebeneffekt sein könnte. Dennoch ist der Anspruch an die Jugendlichen hoch: Die Texte müssen zu Beginn der Proben auswendig gelernt sein und ein Stundenplan muss eingehalten werden. Die beiden Regisseure des Niederrhein-Theaters verfolgen laut Verena Bill ein Ziel:
„Die Idee war, wirklich eine Sommerschauspielschule zu gestalten, wo die Jugendlichen von morgens bis abends richtigen Schauspielunterricht bekommen, richtiges Körpertraining machen und nach einem umfangreichen Stundenplan arbeiten. Und Ziel ist es, dann eine bestimmte Rolle zu erarbeiten. Das ist nicht ein ganzes Stück – das ist auch ganz bewusst so gewählt, damit eben jeder ‘n großen Arbeitsanteil hat –, sondern jeder bekommt eine bestimmte Rolle. Und die sind ausgewählt aus der Weltliteratur, aus verschiedenen Stücken.“
Jeder der jungen Schauspieler und Schauspielerinnen soll sich eine bestimmte Rolle erarbeiten, soll sich also in diese Person hineinversetzen. Es geht nicht vorrangig darum, sich das gesamte literarische Bühnenwerk, das Stück, zu erarbeiten und umzusetzen, was der Autor, die Autorin gemeint haben könnte. Ziel ist, dass jeder in seiner Rolle so oft wie möglich zum Einsatz kommt, dass der Arbeitsanteil – wie es Verena Bill ausdrückt – für jeden groß genug ist. Die beiden Regisseure selbst haben eine klassische Schauspielausbildung. Sie sind – wie viele andere Schauspieler in Deutschland – zunächst viele Jahre immer nur für einen bestimmten Zeitraum an verschiedenen Bühnen engagiert gewesen. 2006 gründeten sie dann das Niederrhein-Theater, das bis Januar 2010 an verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen auftrat. Erst im Januar 2010 bezog man dann die dauerhafte Spielstätte im Schloss Dilborn in Brüggen. Die Idee, die historischen Orte der Gegend, das Schloss und die Burg, fürs Theaterspielen zu nutzen, stieß in der Gemeinde auf offene Ohren, wie Michael Koenen sagt:
„Auf unsere Bitte und unsere Vision hin, eventuell Freilichttheater vor der Burg [zu] spielen, sind die direkt drauf angesprungen und haben einen Testtermin uns gegeben. Da bauen die dann die Bühne auf, die Stühle auf – die unterstützen uns.“
Die Gemeinde war sehr begeistert davon, sie ist – wie Michael Koenen es umgangssprachlich ausdrückt – darauf angesprungen, Theater im Freien vor der historischen Burgkulisse anzubieten. Kein Wunder, denn so kann Brüggen Aufmerksamkeit auf sich ziehen und damit mehr Touristen anlocken. Ob Theater für Erwachsene, Kinder oder Jugendliche: Verena Bill und Michael Koenen wollen mehr als ihren Beruf ausüben, sie wollen ihre Begeisterung für das Theater vermitteln und so mithelfen, eine neue Generation von Zuschauern und Schauspielern für die Bühne zu begeistern:
„Wir hatten mal so ‘nen Slogan wie: ‚Theater wie im Kino’, weil ganz viele Leute oder auch Kinder haben sehr häufig gesagt: ‚Ich hab’ euch ja in dem Film gesehen.‘ Also, wenn die ‘n Theaterstück gesehen haben, aber auch Erwachsene, haben die gesagt: ‚Das war ja wie ‘n Film, Mensch.‘ Ich denke, das ist das lebendige Spielen. Das ist dieses Echte, und deswegen geben wir das halt auch so gerne weiter. Es hat ‘ne tolle Wirkung.“
Die beiden Regisseure schaffen es, so Verena Bill, ihre Stücke so glaubhaft zu inszenieren, auf der Bühne darzustellen, dass die Zuschauer denken, sie würden sich einen Film im Kino anschauen. Das gilt auch, wenn die beiden – wie in dem Gaunerstück „Bonnie und Clyde“ aus der Feder Verena Bills – mal selbst auf der Bühne stehen. Klar ist natürlich, dass dann alle Schauspielschüler im Publikum sitzen:
„Und in welcher Branche sind Sie tätig, wenn Sie nicht gerade Autos stehlen, meine ich? / Also wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Ich bin grad’ auf der Suche nach einem Job. / Und was haben Sie früher getan? / War im Staatsgefängnis. / Im Staatsgefängnis!“