Wer übernimmt den Familienbetrieb?
Gehen Chefs von Familienunternehmen in den Ruhestand, stellt sich die Frage, wer den Betrieb weiterführt. Anders als früher spielt das Geschlecht bei der Entscheidung inzwischen kaum mehr eine Rolle.
In rund 500.000 mittelständischen Unternehmen steht nach Angaben der „Kreditanstalt für Wiederaufbau“, einer staatlichen Bank, in den kommenden Jahren ein Generationswechsel an, darunter auch in sehr vielen Familienbetrieben. Das „Bonner Institut für Mittelstandsforschung“ (IfM) schätzt, dass pro Jahr in 71.000 Familienbetrieben ein Nachfolger beziehungsweise eine Nachfolgerin gesucht wird. Mehr als die Hälfte der Inhaber wollen ihre Firma an ihre Kinder übergeben, der Rest sucht nach geeigneten Mitarbeitern und externen Personen. Waren es früher in der Regel die Söhne, ein Schwiegersohn oder ein Geschäftsführer, die den Betrieb übernahmen, finden sich inzwischen zunehmend auch Frauen für die Aufgabe – wie beispielsweise bei der Firma MAB Maschinen- und Aggregatebau in Much in der Nähe von Köln, die Notstromaggregate herstellt, Apparate, die beim Ausfall des Stromnetzes Strom erzeugen. Geführt wird sie von Kerstin Zessin, deren Vater den Betrieb einst aufgebaut hat. Sie machte ihre Ausbildung zur Industriekauffrau in einem Unternehmen, das von einer Frau geführt wurde. Diese war für sie ein Vorbild, erzählt sie:
„Das war ‘n 500-Mann-Unternehmen, und ich fand das total faszinierend, wie eine da so den Laden geschmissen hat – und hab gedacht: ‚Das machst du auch‘. Und dann habe ich meinen Vater mal angesprochen und hab zu ihm gesagt: ‚Also entweder finden wir ‘ne Entscheidung oder ich such mir was, wo ich sag: ‚Das kann ich übernehmen.‘ Und da war relativ schnell klar, dass es der Betrieb werden würde.“
Kerstin Zessin war sehr beeindruckt, fand es total faszinierend, wie ihre damalige Chefin den Laden allein schmiss, wie sie dafür sorgte, dass ihr Betrieb gut funktionierte. Für sie selbst stand früh fest, dass sie selber Entscheidungen treffen und etwas bewegen wollte. Nach Ende ihrer Ausbildung stellte sie ihren Vater vor die Wahl: Sie wollte entweder den elterlichen Betrieb übernehmen oder sich einen anderen suchen. Seine Entscheidung war eindeutig: Die Tochter sollte seine Nachfolge antreten. Kerstin Zessin arbeitete sich ein, machte sich mit der zu leistenden Aufgabe vertraut. Sie fuhr zu Baustellen, führte Vertragsverhandlungen und bildete sich weiter. 2006 kaufte sie ihren Eltern den Betrieb ab. Nicht überall dürfte dieser Generationenwechsel so reibungslos verlaufen wie bei dem Familienunternehmen in Much. Dass jemand gar keinen Nachfolger findet, ist für Rosemarie Kay vom Bonner „Institut für Mittelstandsforschung“ (IfM) allerdings schwer vorstellbar:
„Rein rechnerisch übersteigt die Zahl der Menschen, die ein Unternehmen wollen, bei weitem noch die Zahl der Unternehmen, die übergeben werden wollen.“
Wenn man die Zahlen vergleicht, rein rechnerisch, ist es laut Rosemarie Kay so, dass es mehr Interessenten als Anbieter für eine Firmenübernahme gibt. Allerdings liegt der Anteil von Frauen nach Angaben der „bga“, der staatlich geförderten „bundesweiten gründerinnenagentur“, derzeit bei lediglich 20 Prozent. Um mehr Frauen über das Thema zu informieren und sie für eine Firmenübernahme zu gewinnen, veranstaltet die „bga“ seit 2008 jährlich einen sogenannten „Nationalen Aktionstag“. Denn ob ein Betrieb an ein weibliches Familienmitglied übergeben wird, hängt nicht nur von der Elterngeneration, den Alteigentümern, ab, sondern auch von den Frauen selbst, sagt Nadine Schlömer-Laufen vom IfM:
„Die Töchter müssen sich ja auch zutrauen und sich selbst darin bestärken, dass sie zu solch einer Rolle bereit sind und fähig sind, diese Verantwortung auch zu übernehmen. Und das ist ja vielleicht auch ein Problem, dass sich vielleicht viele Töchter auch nicht in dieser Rolle sehen. Und ich denke mal, dass sich im Laufe der Zeit vielleicht auch die Rollenbilder verändern werden, dass da sich auch mehr Frauen in die Nachfolge trauen, vielleicht auch in mehr männerdominierten Branchen, also wie zum Beispiel das produzierende Gewerbe. Aber letztendlich die Entscheidung darüber, wer in die Nachfolge kommt, treffen natürlich die Alteigentümer. Und die Alteigentümer sind in der Regel männlich.“
Soll beispielsweise die Tochter den Familienbetrieb übernehmen, ist nach Ansicht von Nadine Schlömer-Laufen eines ganz wichtig: Selbstvertrauen. Die Tochter muss sich sicher sein, die Aufgabe auch erfüllen zu können. Gegebenenfalls muss sie sich selbst darin bestärken, muss sich selbst ermutigen, dass sie es kann. Darüber hinaus muss sie sich in dieser Rolle sehen, sie muss ein Unternehmen als Chefin führen wollen – auch eines in einer Branche, einem Wirtschaftsbereich, in dem Frauen selten anzutreffen sind. Hierzu zählt Nadine Schlömer-Laufen das produzierende Gewerbe, also beispielsweise die Bauindustrie oder die Energie- und Wasserversorgung. In diesen Branchen arbeiten meist Männer, sie sind männerdominiert. Aber selbst wenn Frauen genug Selbstvertrauen haben, gibt es oft ein weiteres Hindernis: das Rollenbild, die Meinung, dass in bestimmten Berufen nur Männer beziehungsweise nur Frauen arbeiten können. Bei der Entscheidung, wer den Familienbetrieb übernimmt, spielt darüber hinaus ein weiterer Punkt eine sehr wichtige Rolle, sagt Rosemarie Kay:
„Wir haben zeigen können, dass, wenn’s die Mutter ist, die abgibt, die Töchter eine wesentlich größere Chance haben, ausgewählt zu werden als Nachfolger, als wenn das abgebende Elternteil der Vater ist. Es ist nicht so: Mütter nehmen immer Töchter, aber Mütter nehmen Töchter mit ‘ner größeren Wahrscheinlichkeit. Wohingegen Väter mit einer deutlich größeren Wahrscheinlichkeit Söhne auswählen als Nachfolger.“
Rosemarie Kay und Nadine Schlömer-Laufen stellten in einer 2013 veröffentlichten Studie fest, dass bei der Suche nach einem Nachfolger Firmeninhaberinnen eher die Tochter bevorzugen als den Sohn. Die Wahrscheinlichkeit ist größer. Wohingegen, im Gegensatz dazu, Firmeninhaber, wenn sie die Wahl haben, meist den Sohn wählen. Und das geschieht nach Ansicht der beiden Wissenschaftlerinnen aus einem einfachen Grund: Man sucht sich denjenigen aus, der einem ähnlich ist. Bei Kerstin Zessin war das anders. Ihr Vater vertraute ihr, dass sie das Unternehmen gut führen würde. Wichtig war dabei vor allem, dass er sie als Chefin respektierte:
„Mein Vater hat viel an alten Dingen festgehalten, was ich dann nicht mehr wollte. Und ich weiß, dass er häufig, nachdem wir das übernommen hatten, auch die Faust in der Tasche gemacht hat nach dem Motto: ‚Was macht sie denn jetzt schon wieder? Was hat sie denn da schon wieder weggeschmissen? Was hat sie da schon wieder gekauft?‘ Aber er hat sich an die Vereinbarung gehalten. Und das ist, finde ich, ganz wichtig, dass man diese Vereinbarung trifft und dass beide Partner sich auch daran halten. Dass man wirklich das Gefühl hat: Ich hab was übernommen und ich kann jetzt auch selber agieren, und ich hab nicht jemand im Nacken, der mir permanent sagt: ‚Mach das nicht! Lass es sein! Tu das oder tu’s nicht!‘“
Wichtig bei einer familieninternen Betriebsübernahme ist nach Ansicht von Kerstin Zessin, dass Eltern und Kinder eine Vereinbarung treffen, in der alle wichtigen Punkte geregelt sind. Sie wollte eigene Entscheidungen treffen und handeln, agieren, können. Sie wollte nicht ihren Vater im Nacken sitzen haben, der ihr ständig, permanent, hineinredete, ihr sagte, was sie tun solle und was nicht. Wer redensartlich „jemanden im Nacken sitzen hat“, hat das Gefühl, unter Druck einer anderen Person handeln zu müssen. Kerstin Zessin wusste, dass ihr Vater oft die Faust in der Tasche machte, also ruhig blieb statt zu handeln, obwohl er mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden war. Für die Aufzählung, was ihrem Vater nicht gefallen hat, verwendet Kerstin Zessin die Wendung „nach dem Motto“. Mit den Jahren hat sich, so die Erfahrung von Kerstin Zessin, auch der Führungsstil im Unternehmen geändert:
„Früher war es doch mehr dieses Diktatorische: Wenn Meister oder Chef irgendwas gesagt haben, dann ist das so. Heute wird es mehr im kollegialen Team zusammen besprochen, wird überlegt, wie können wir ‘ne Lösung finden. Ist ‘n anderer Stil einfach mal. Ich denk auch, ‘ne Frau führt anders, als es Männer tun.“
Kerstin Zessin meint, dass in Unternehmen früher eine andere Arbeitsatmosphäre herrschte als heute. Früher erwarteten Führungskräfte – ein Unternehmenschef oder auch ein Handwerksmeister – von den Mitarbeitern, dass sie das taten, umsetzten, was ihnen gesagt wurde. Es herrschte – wie es Kerstin Zessin formuliert – ein diktatorischer Führungsstil. Heutzutage spielt dagegen Kollegialität im Team, also die gleichberechtigte Zusammenarbeit aller, eine größere Rolle. Unabhängig davon findet Kerstin Zessin, dass es im Führungsstil einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Inzwischen ist Kerstin Zessin selbst in einem Alter, über ihre eigene Nachfolge nachzudenken. Allerdings ist das Unternehmerdasein im Vergleich zu früher viel mühsamer geworden, meint sie:
„Das Geld, die Aufträge, die Auftragssuche. Es ist alles nicht mehr so, wie es früher war. Früher wurde ‘n Auftrag erteilt, dann wusste man: ‚Das läuft.‘ Heute ist es noch lange nicht so. Sie laufen viel den Sachen hinterher, Sie müssen viel klären. Der Schriftverkehr ist enorm gewachsen. Ich weiß nicht, ob ich jemandem so diese Verantwortung, die man selber für sich, für den Betrieb, für die Mitarbeiter hat, ob man das wirklich so weitergeben will. Aber es muss ja irgendwo weitergehen.“
Die Geschäftswelt ist komplexer, vielschichtiger geworden. Früher war laut Kerstin Zessin die Auftragsabwicklung einfacher, also der Prozess vom Zeitpunkt der Erteilung eines Auftrags durch den Kunden bis zum Zahlungseingang. Man wusste, dass alles gut funktioniert, dass es läuft. Heutzutage müssen Unternehmer sich um Aufträge richtig bemühen, sie suchen. Zudem ist die Abstimmung zwischen Auftraggeber und -nehmer umfangreicher geworden. Oft findet sie schriftlich, per E-Mail, statt. Der Schriftverkehr ist laut Kerstin Zessin enorm gewachsen, stark gestiegen. Alles in allem hat Kerstin Zessin das Gefühl, dass man den Sachen mehr hinterherläuft, sich darum bemühen muss, alle Informationen und manchmal auch sein Geld zu bekommen. Mögliche Probleme müssen aus dem Weg geräumt, geklärt, werden. Trotz vieler Schwierigkeiten und dem Zweifel daran, ob man eine derartige Verantwortung an die nächste Generation weitergeben möchte, steht für die Familienunternehmerin fest: Es muss ja weitergehen. Allerdings spielt dabei das Geschlecht kaum mehr eine Rolle.