Manuskript

Wohnen für Hilfe

Seit Jahren ist der Wohnungsmarkt in Studentenstädten sehr angespannt, Unterkünfte sind rar und teuer. Es geht aber auch anders: Man kann bei jemandem einziehen und die Miete quasi abarbeiten. Ein Beispiel aus Kiel.

Es ist früher Nachmittag in Klausdorf bei Kiel. Adele, eine rüstige Endsiebzigerin, und Student Gennadiy aus dem osteuropäischen Staat Kasachstan sitzen gemütlich bei einer Tasse Kaffee und selbstgebackene Plätzchen zusammen und unterhalten sich. Seit einiger Zeit wohnen die beiden gemeinsam in Adeles Wohnung. Geplant hatte die Seniorin das eigentlich nicht:

„Mein Mann ist ganz plötzlich gestorben, von nun auf gleich. Wir waren 46 Jahre verheiratet, immer zusammen. So, und da war ich ganz allein in diesem Haus, und ich war verdammt einsam. Und ich habe ’ne gute Bekannte und die hatte mich besucht, und dann habe ich ihr gesagt: ‚Ich sag, weißt du, ich möchte eigentlich jemand haben, der hier wohnt. Ich sag, ich will überhaupt nichts haben dafür, kein Geld, kein gar nichts, nur dass jemand da ist‘. Und da sagt sie: ‚Oh, ich habe was Gutes. Ich schick dir mal ’nen Link.“

Gesagt, getan. Adeles gute Bekannte, jemand, den sie schon länger kennt, mit dem sie aber nicht befreundet ist, schickte ihr den Link, die Verbindungsdaten, zur Webseite des Studentenwerks für die Teilnahme am Projekt „Wohnen für Hilfe“. Sofort rief sie dort an. Sie hatte genaue Vorstellungen, wen sie gern bei sich aufnehmen würde – wobei daraus nichts wurde, sagt sie schmunzelnd: „Ich hätte gern einen Studenten aus dem Spanisch sprechenden Raum, weil ich lerne so ’n bisschen Spanisch nebenbei. Bekommen hab ich dann einen Kasachen.“

Etwa die Hälfte der Studierenden, die das Kieler Studentenwerk im Rahmen des Projekts bei Privatpersonen unterbringt, kommt aus dem Ausland. Gerade sie haben es schwer, eine bezahlbare Wohnung zu finden. 1992 wurde in Darmstadt das erste Projekt dieser Art ins Leben gerufen, weitere Studentenstädte folgten, 2013 auch Kiel. Alexandra Dreibach gründete das Projekt in der norddeutschen Stadt, weil sie selbst positive Erfahrungen damit gemacht hatte: Denn ihr eigener Sohn, der in Bamberg studieren wollte und keine Bleibe fand, wurde schließlich über die dortige Initiative fündig. Das Prinzip ist einfach: Senioren*, Pflegebedürftige oder Familien stellen in ihrem Haus ein Zimmer oder eine Einliegerwohnung für eine Studentin oder einen Studenten zur Verfügung. Statt Miete zu zahlen helfen sie dann im Haushalt und Garten oder übernehmen andere Arbeiten. Pro Quadratmeter Wohnraum, den sie nutzen, ist eine Stunde monatliche Hilfe angesagt. Wenn ältere Menschen wie Adele sich entscheiden, bei der Initiative mitzumachen, ist einer der Gründe oft die Einsamkeit. Es gibt aber, so Alexandra Dreibach, auch andere Gründe:

„Es ist ja so: Im Alter fällt einem vielleicht die Gartenarbeit zunehmend schwerer. Der Rasenmäher oder das Unkraut, das ist immer das Hinsetzen, Hinhocken. Gut, Gartenarbeit sagt man immer so einfach mal, das ist der Sport im Alter. Aber es fällt dem einen oder anderen aufgrund irgendwelcher körperlichen Einschränkung denn doch schwer. Oder der Hund muss ausgeführt werden.“

Diejenigen, die ein Zimmer oder eine Wohnung anbieten beziehungsweise suchen, füllen zunächst einen Bewerberbogen aus, erklärt Alexandra Dreibach:

„Da werden dann erst mal die Kontaktdaten aufgenommen, dann Angaben zur Wohnung: Ist das ’n Haus? Wieviel Zimmer? Wieviel Quadratmeter? Ist das Zimmer möbliert? – und so weiter. Und dann kommt eine Kategorie: gewünschte  Hilfstätigkeiten. Was wünscht man sich? Putzen, Fenster putzen, Fußböden wischen oder auch mal bügeln, spülen, Straße fegen, Gartenarbeit, Versorgung von Tieren, einkaufen, Schreibarbeiten, Gesellschaft leisten. Der Anbieter kann ankreuzen, was er sich wünscht, und der Student, die Studentin, auf deren Bewerberbögen, können ankreuzen, was sie davon machen würden und was nicht.“

Adeles Haus ist sehr groß, im Erdgeschoss standen 60 Quadratmeter leer, samt Küchenzeile und Bad. Diesen Bereich bewohnt jetzt Gennadiy. Dass jeder seinen eigenen Bereich hat und nicht Küche und Bad mit einem zunächst völlig fremden Menschen teilen muss, ist für die meisten sehr wichtig. Auch für Adele war das entscheidend, ansonsten hätte sie sich nicht an dem Angebot beteiligt. Für seinen Lebensunterhalt jobbt Gennadiy. Allerdings würde das nicht auch noch für die Miete reichen:

„Das wäre schwierig von dem Geld. Zum Beispiel, jetzt ab und zu muss ich auch arbeiten, weil zum Beispiel Krankenversicherung zu bezahlen ist und diese ganzen Kosten. Und dann natürlich gibt es nicht so viel Zeit fürs Studium. Und dann muss ich die Prüfungen schreiben, und manchmal klappt es nicht. In Kasachstan habe ich nur meine Mutter, sie hat keine Arbeit und kann sie das nicht mehr, mir zu helfen.“

So geht er mit Adeles Hund spazieren – sie haben ihre feste Runde. Gleich neben dem Haus ist ein kleiner Reitturnierplatz mit schönen Wegen durchs Grüne. Gennadiy ist zufrieden:

„Das war von Anfang an Hauptaufgabe, mit dem Hund spazieren gehen. Und jetzt versuche ich, diese Aufgabe jeden Tag zu erledigen. Es gibt Schlimmeres. Wenn jemand fragt, was für Aufgaben hast du, dann sage ich, mit dem Hund spazieren zu gehen.“

Außerdem hat es Gennadiy, der Elektrotechnik studiert, nicht weit bis zur Fachhochschule. Der Bus dorthin fährt direkt vor dem für Norddeutschland typischen Rotklinkerhaus ab. Zehn Minuten braucht er. Gegenüber ist noch ein Supermarkt, ansonsten reihen sich hier Einfamilienhäuser, Wiesen und Felder aneinander. Nicht gerade das typische Studentenviertel, was Gennadiy aber nicht stört:

„Ich brauch auch Ruhe. Also, für mich das ist in Ordnung. Ich treffe mich auch oft mit meinen Freunden, am Wochenende gehen wir auch raus in die Stadt oder ins Kino. Also, das gefällt mir. Hier ist es immer ruhig.“

 „Wohnen für Hilfe“ ist also ein Projekt, das für beide Seiten Vorteile hat. Und obwohl jeder eine eigene Küche hat, essen Adele und Gennadiy oft gemeinsam: Sie kocht, er räumt anschließend die Küche auf. Die Seniorin weiß, dass sie sich immer auf ihren jungen Mitbewohner verlassen kann, wofür sie sehr dankbar ist:

„Ohne seine Hilfe, ich weiß nicht, ob ich das alles geschafft hätte. Es ging so viel kaputt auf einmal. Ob das ’n Wasserrohrbruch war oder Stromausfall oder die Heizung. Also, es ist wahnsinnig viel gemacht worden – und er war da. Er war da. Ich konnte fragen: ‚Kannst du bitte, geht das und so?‘ ‚Ja‘, hat er immer gesagt, ‚ja, gut‘. Ja, und dann hat er das gemacht. Fertig.“

Aber Adele war auch für Gennadiy da. Wenige Monate nach seinem Einzug erhielt er mitten in der Nacht einen Anruf aus Kasachstan, dass sein Vater plötzlich verstorben sei. Dann klopfte er an Adeles Tür – und die beiden haben zunächst mal einen Tee zusammen getrunken.

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*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird manchmal auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.