Manuskript

Wossis

„Wossis“ waren ganz besondere Deutsche: Als Westdeutsche arbeiteten und lebten sie im Osten Deutschlands – manche blieben für immer, andere gingen wieder. Nicht immer wurden „Wossis“ jedoch mit offenen Armen empfangen.


Kaum war die Berliner Mauer 1989 gefallen, war die deutsche Sprache schon um zwei Wörter reicher: „Ossi“ und „Wessi“. So nannte man fortan die Ostdeutschen und die Westdeutschen, mal liebevoll, oft genug aber auch abwertend. Und es dauerte kein Jahr, da gab es nicht nur die deutsche Einheit, sondern ein weiteres neues Wort: „Wossi“. Als „Wossi“ bezeichnete man in der Regel einen Westdeutschen, der in den östlichen Teil des wiedervereinigten Deutschlands zog. Vor allem waren das Beamte und Richter, denn es sollte ein einheitliches Verwaltungs- und Rechtssystem aufgebaut werden. Viele „Wossis“ zogen nach erledigter Aufbauarbeit wieder zurück in den Westen. Manche aber sind geblieben – wie Ulrike. Und das hat seinen Grund:

„Das ist hier meine Heimat geworden.“

Ulrike sitzt in einer kleinen Kirche in Magdeburg. Die Landeshauptstadt des ostdeutschen Bundeslandes Sachsen-Anhalt ist zu ihrer neuen Heimat geworden. Sie arbeitet und lebt dort mit ihrer Familie und engagiert sich in der evangelischen Kirche. Ulrike hat ihre alte Heimat verlassen. Aufgewachsen ist sie in der niedersächsischen Stadt Celle, hat in Hildesheim, Hannover und Göttingen ihre juristische Ausbildung gemacht. Das sind alles Städte, die nicht sehr weit von der Grenze zur früheren DDR entfernt waren. Mit ihrem Großvater ist sie manchmal zu dieser Grenze gefahren und hat – wie es damals hieß – „nach drüben“ geguckt. Wenn sie nach West-Berlin fuhr, kam sie an Magdeburg vorbei. Aber es blieb eine fremde Stadt in einem fremden Land. Ulrike machte einen guten Abschluss in Niedersachsen, man bot ihr eine Richterstelle an, aber eigentlich wollte sie etwas Anderes machen:

„Das war eigentlich jetzt nicht so mein Berufswunsch, weil, wenn die Leute vorm Richter stehen, kann man nicht mehr so viel machen. Ich möchte eigentlich lieber, so vielleicht im Vorfeld, Dinge machen und organisieren, dass es vielleicht nicht zu spät ist.“

Der Richterberuf war nicht das, was Ulrike Freude gemacht hätte. Denn wenn – wie sie sagt – die Leute vorm Richter stehen, hätte sie selbst nichts mehr ausrichten können. Ulrike wollte in einem Beruf arbeiten, in dem sie noch Möglichkeiten zur eigenen Gestaltung hatte, im Vorfeld, bevor es zu spät ist. Ein Bekannter gab ihr den Tipp, sich im Justizministerium von Sachsen-Anhalt zu bewerben. Dort fand sie die Herausforderung, die sie suchte: Ostdeutsche Mitarbeiter im neuen Recht und den neuen Verwaltungsabläufen auszubilden. Tausende Westdeutsche waren zu diesem Zeitpunkt schon in den Osten gegangen, und man hörte viele Geschichten von Spannungen zwischen diesen so genannten „Wossis“ und den ostdeutschen Kollegen und Kolleginnen. Eine solche Erfahrung hat Ulrike nicht gemacht:

„Ich kann das nicht bestätigen. Also, ich wurde auch freundlich von allen aufgenommen. Es gab allerdings dann auch mal so Gespräche, wo die ostdeutschen Kollegen sich beschwerten, dass manche Wessis hier doch sehr forsch aufgetreten seien und sie auch teilweise von oben herab behandelt hätten. Aber mir gegenüber war das also nicht.“

Die Westdeutschen, die direkt nach dem Mauerfall in die frühere DDR – manchmal auch nur auf Zeit – gingen, traten sehr forsch, sehr selbstsicher und energisch, auf. Außerdem behandelte mancher seine ostdeutschen Kollegen und Kolleginnen von oben herab. Er blickte auf sie herab, weil er der Ansicht war, dass man im Westen fortschrittlicher war. Ulrike erklärt sich das freundliche Verhalten ihrer Kollegen ihr gegenüber so:

„Es kann aber auch daran gelegen haben, dass ich mich relativ früh entschlossen hab, hier auch herzuziehen, und nicht wie andere vielleicht, die nur hier zum Arbeiten herfuhren und dann wieder sofort weg. Ich hab’ also die ersten Nächte noch im Dienstzimmer übernachtet. Und zwar war das das ehemalige Stasi-Gelände, und das war wahrscheinlich ein altes Stasi-Bett, wo ich dann morgens aufwachte, auf die Aktenberge schaute.“

Bis sie eine eigene Unterkunft hatte, übernachtete Ulrike in ihrem Büro, in ihrem Dienstzimmer. Der Begriff kommt daher, dass vor allem Beamte wie Polizisten, Soldaten, Ärzte, aber auch Richter „Dienst machen“, „tun“, „haben“ oder „zum Dienst erscheinen“. Und dieses Dienstzimmer befand sich auf einem Gelände, das der früheren DDR-Geheimpolizei, der Staatssicherheit, kurz Stasi, gehört hatte. Diese war sowohl im Inland als auch im Ausland aktiv. Oppositionelle und Kritiker des Regimes wurden überwacht, eingeschüchtert, willkürlich verhaftet, entführt. Ulrike hat also direkt deutlich gemacht, dass sie im Osten bleiben will und nicht nur zum Arbeiten kommt und irgendwann wieder in den Westen zurückzieht. Während andere Westbeamte direkt hinter der ehemaligen innerdeutschen Grenze ein Haus bauten, nur um nicht im Osten wohnen zu müssen, ließ sie sich ganz auf Magdeburg ein. Allerdings musste auch sie – wie ihre Freundin Gudrun erzählt – erst einmal ein typisches Ost-West-Problem überwinden:

„Und sie erzählte so ein klein wenig, was sie hergetrieben hat nach Magdeburg und dass sie eine Wohnung sucht – logischerweise. Aber wie die Wohnung sein sollte, dass sie ganz feste Vorstellungen hatte und auch von der Qualität der Wohnung – von der träumten wir in dieser Zeit noch –, und da habe ich gedacht: ‚Also diese Wessis!‘ Also das war so ’n Punkt, wo ich gedacht hab’: ‚Das kann jetzt mal alles nicht sein. Die kommen her und haben haben Ansprüche, und wir müssen erst mal sehen, wie wir überhaupt jetzt ’n Horizont sehen.‘“

Die Ossi Gudrun lernte die Wessi Ulrike im Rahmen der evangelischen Gemeindearbeit kennen. Ulrike erzählte, warum sie nach Magdeburg gekommen ist, was sie – umgangssprachlich – hergetrieben hat. Es war klar, logisch, dass sie auch eine Wohnung suchte. Allerdings hatte Ulrike damals keine Ahnung, wie niedrig der Standard der Wohnungen in der ehemaligen DDR war. Das hatte seinen Grund: Die Mieten mussten – so wollte es die DDR-Führung – sehr niedrig sein. Die meisten Eigentümer renovierten oder modernisierten deshalb ihre Mietshäuser nicht. Aber auch an Häusern, die in staatlichem oder kommunalem Besitz waren, wurde kaum etwas gemacht. Es waren kein Geld, keine Baustoffe und oft auch keine Arbeitskräfte da. In Westdeutschland war der Wohnungsstandard komplett anders. Und die Westdeutschen, die in den Osten gingen, stellten deshalb Ansprüche: Sie wollten ihren gewohnten Standard haben. Damit stießen sie bei den Ostdeutschen auf Unverständnis und Ablehnung: Denn diese waren – wie Gudrun es redensartlich ausdrückt – froh, nach dem Ende der DDR endlich Licht am Horizont zu sehen, Anzeichen dafür zu sehen, dass sich ihre allgemeine Lebenssituation bessert. Aber Ulrike und Gudrun fanden letztlich dann doch zusammen:

„Wir sahen beide gleich aus mit unseren Arbeitsklamotten und haben auf ’m Friedhof Aufräumarbeiten gemacht – aus dieser Kirchengemeinde heraus. Wir hatten plötzlich einen gleichen Level. Wir beide arbeiteten zusammen, haben uns gegenseitig unsere Vorbehalte lachend erzählt, und dann war’s gut.“

Die Westdeutsche und die Ostdeutsche stellten bei der Arbeit Seite an Seite zwei Dinge fest: zum einen, dass es doch mehr Gemeinsamkeiten gab, als beide dachten, dass sie ein gleiches Level hatten, und zum anderen, dass sie gegenseitig Vorbehalte, Vorurteile, hatten. So galten Ostdeutsche in den Augen der Westdeutschen etwa als unkultiviert, angepasst, spießig, Westdeutsche umgekehrt als am Geld orientiert, arrogant, wenig selbstkritisch.

„Da gab es dann so Aussprüche: ‚Ja, wir müssen das jetzt hier mal alles verändern‘, und denn schon allein wie sie aufgetreten sind auch in ihrer Kleidung. Diese Menschen auf der Straße mit Schlips und Anzug gab es in der DDR nicht. Und da hat man dann immer schon gedacht: ‚Na ja, die wollen was darstellen.‘“

Ostdeutsche erkannten die Westdeutschen meist schon auf der Straße an ihrem Äußeren. Sie trugen – wie Gudrun verallgemeinernd sagt – Schlips und Anzug, also die Kleidung, die in bestimmten Berufen oder in Führungspositionen getragen wird. Und sie unterstellten, dass die Westdeutschen damit nur Eindruck machen, etwas darstellen wollten. Ulrike und Gudrun sind inzwischen enge Freundinnen. Gudrun ist sogar mit einem „Wossi“ verheiratet, einem, der – wie Ulrike – von Berufs wegen nach Magdeburg gezogen war und dort auch wohnte. Heute aber ist nach Meinung der beiden Freundinnen das Thema Ossi-Wessi weitgehend erledigt:

„Ich denke vielleicht bei den Älteren, dass man das noch merkt und dass man manchmal auch über die Unterschiede vielleicht noch diskutiert. Aber bei den Jüngeren und auch so bei meinem Kind, ich glaube, da gibt’s gar keine Unterschiede mehr. Das ist so ’ne Generationenfrage.“

Für diejenigen, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden und die frühere DDR nicht mehr miterlebt haben, gibt es die Einteilung in Ossi und Wessi nicht mehr. Es war eine Generationenfrage – wie beim „Wossi“ auch. Die Nachfahren der „Wossis“ sind Deutsche – egal ob sie im Osten oder Westen der Bundesrepublik leben.

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